Der Ordoliberalismus: Fluch oder Segen für Europa?

Dieser Beitrag wurde mit dem dritten Preis des 2. Think Ordo!-Essaywettbewerbs ausgezeichnet.

Spätestens seit dem Jahr 2008, als die Finanzkrise begann, ist der Glaube an die Europäische Finanz- und Ordnungspolitik zerrüttet. Auf dem sinkenden Schiff Europa sind jeglicher Idealismus und die stolz hochgehaltenen Prinzipien verflogen. In dieser existenziellen Krise stehen die Kapitäne der EU vor dem nahezu unlösbaren Dilemma, zu entscheiden, wer auf die Rettungsboote darf und wer zurückbleiben muss. Nicht jeder kann gerettet, nicht jedes Prinzip eingehalten werden, aber vielleicht lässt sich so wenigstens noch der Kern der EU retten.

Die Europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik ist in ihrer Grundkonzeption den Prinzipien des Ordoliberalismus ähnlich. Die EU ist ein riesiger Binnenmarkt ohne Schranken und verkörpert die Grundgedanken des Freihandels und der offenen Märkte, derweil die EZB den Primat der Währungspolitik sowie die Preis- und Geldwertstabilität sichert. All dies sind Elemente, die bereits der Vater des Ordoliberalismus, Walter Eucken, als die Grundprinzipien der Ordnungspolitik benannt hat. Mit ihrer Hilfe werde eine Wirtschaftsordnung auf der Basis fairen und vollkommenen Wettbewerbs ermöglicht.

Der Ordoliberalismus wurde seinerzeit als eine Art Optimalversion einer Marktwirtschaft erdacht, die als Gegenstück zu der Wirtschaftsordnung der späten 1920er und 1930er Jahre, die durch die Weltwirtschaftskrise und die anschließende Kommandowirtschaft des Nazi-Regimes kennzeichnet war und als traumatisierend empfunden wurde. Den Vätern des Ordoliberalismus wäre angesichts ihrer optimistischen Vision einer funktionierenden Wirtschaftsordnung die Finanzkrise und das Versagen der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik wohl unwirklich und unwahrscheinlich vorgekommen – zumindest dann, wenn Europas Wirtschaftspolitik tatsächlich ordoliberal ausgestaltet wäre. Umso mehr drängt sich daher die Frage auf, ob der Ordoliberalismus tatsächlich als der Schuldige für die Krise herhalten kann, wie es manche behaupten, oder er – konsequent angewendet – vielmehr die Lösung für eine solche.

Ein zentraler Gedanke Euckens und des Ordoliberalismus ist die Einheit von Haftung und Kontrolle in Unternehmen. Diese Einheit muss wieder gelebt werden, damit das europäische Projekt funktionieren kann. In der Finanzkrise waren selbst riskanteste Geschäfte der Großbanken nicht mehr mit einem nennenswerten Eigenrisiko verbunden, da sich die helfende und schützende Staatshand im Laufe der Krise immer deutlicher herauskristallisierte. Diese habe, so der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, zu einer Privatisierung der Gewinne und zu einer Verstaatlichung der Verluste geführt. Eine derartige Politik führt weder zu einem fairen Wettbewerb noch zum Erfolg der besten Ideen, in diesem Falle der besten Bankpolitik. Tatsächlich wurden und werden die Banken kaum für ihre misslungenen Risikogeschäfte bestraft.

Auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten findet man das Auseinanderfallen von Entscheidungsgewalt über Staatsausgaben und Haftung. Nach dem heutigen System wird die Haushaltspolitik der EU-Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene gestaltet, derweil die Haftung sich über Landesgrenzen hinweg über ganz Europa verteilt. Wer heute sein Staatsdefizit in schwindelnde Höhen treibt, wird vom Rest Europas „gerettet“. Aus ordnungspolitischer Sicht gibt es zwei Möglichkeiten, um mit dieser Situation umzugehen: Entweder man führt Kontroll- oder Eingriffsrechte auf der Ebene der EU ein, mit denen man in den Mitgliedsstaaten eine angemessene Ausgabenpolitik erzwingen kann, oder man zu einer stärkeren Eigenhaftung der Mitgliedstaaten zurück, wie sie ursprünglich schon in der Nichtbeistands-Klausel des Maastrichter Vertrags festgelegt worden war, die aber durch allerlei „Rettungsschirme“ ausgehöhlt wurde.

Weiterhin muss das Verbot der monetären Staatsfinanzierung konsequent durchgesetzt werden. Dieses Prinzip verbietet es der EZB eigentlich, Geld zu schöpfen, um damit Krisenstaaten zu finanzieren. Tatsächlich sind Ankäufe von Staatsanleihen am Primärmarkt, also im Moment ihrer ersten Ausgabe, nach den EZB-Statuten ausdrücklich verboten, dies gilt jedoch nicht für Ankäufe am Sekundärmarkt, wenn also Staaten ihre Anleihen zunächst an Privatbanken verkaufen, wo die EZB sie dann übernimmt. Das geldpolitische Ergebnis dieses kleinen Tricks ist dasselbe oder sogar noch schlimmer, denn neben der Staatsfinanzierung werden auch noch marode Privatbanken mit dringend benötigten Reserven versorgt, die sie weiter künstlich am Leben erhalten. An dieser Stelle ist mindestens eine Lösung angebracht, die höhere Eigenkapitalanforderungen an Banken stellt.

Die EU wird ihre Krise erst dann überwinden und wieder florieren, wenn sie zu einem gesunden Wettbewerbsumfeld zurückkehrt, d.h., wenn die Volkswirtschaften der Krisenländer wieder wettbewerbsfähiger werden. Hierzu bedarf es keiner Euro-Rettungsschirme und auch keines künstlich herbeigeführten Niedrigzinses durch Staatsanleihenkäufe der EZB, denn diese fördern nur bereits die Bildung von Blasen bei den Vermögenspreisen, die früher oder später platzen werden, sondern maßgeblicher struktureller Veränderungen in den Mitgliedsstaaten und deren Wirtschaften. Dazu gehört auch, dass Walter Eucken und die Begründer der Freiburger Schule einen Staat wollten, der stark genug ist, um sich aus den Verstrickungen von Wirtschaftsinteressen herauszuhalten. Doch wie stark ist ein Staat im Geflecht der Europäischen Union? Wie viel Überblick hat man noch angesichts eines europäischen Zentrums der Lobbyisten und Technokraten?

Eucken ist viele Jahre vor Gründung der Europäischen Union verstorben. Sein Weltbild war geprägt von der Nationalökonomie. Der Ordoliberalismus muss heutzutage nicht mehr national, sondern europäisch, wenn nicht sogar global gedacht werden. Von überall her kommen Wünsche nach der Einführung eines Weltdollars, einem Weltgesellschaftsvertrag aller Staaten oder einem absoluten Freihandel: ohne Zölle, ohne Marktzugangsbeschränkungen. Radikale Ideen und selbst unter Ökonomen nicht unbedingt konsensfähig, wie TTIP und CETA zeigen, aber mit einer klaren globalen Richtung.

Freilich erfordert das Umdenken zum Globalen mutige Schritte, die vielen kaum gefallen werden: Die einzelnen Mitgliedsstaaten müssten Teile ihrer Souveränität abgeben. Die Mitglieder der EU müssten zusammenrücken – nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch gesellschaftspolitisch. Es gilt, eine gemeinsame europäische Identität zu finden, ohne sie den Bürgern aufzudrücken. Die EU möchte eine Wertegemeinschaft sein und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirklichen, doch in der Praxis funktioniert dies bisher nur leidlich. Wichtig wäre eine viel stärkere Beteiligung der Bürger Europas an wahrhaft demokratischen europäischen Entscheidungsprozessen.

Ordoliberal ist an der Realität der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik daher wenig. Eher war die EU ein Fluch für den Ordoliberalismus als umgekehrt. Der Ordoliberalismus fußt auf drei Säulen: auf der persönlichen Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der ökonomischen Leistungsfähigkeit. Die ökonomische Leistungsfähigkeit wird durch den aufgeplusterten Verwaltungsapparat der EU und die unzähligen Verordnungen, Richtlinien und Standards gelähmt. „Sozial gerecht“ kann man eine Gemeinschaft mit so vielen Verlierern und Zurückgebliebenen, die Jugendarbeitslosenquote in einigen südeuropäischen Ländern ist erschreckend, kaum nennen. Durch das Mehrebenensystem der EU, das nur zu einem geringen Grad demokratisch legitimiert ist, wird schließlich auch die persönliche Freiheit eines jeden Europäers beschnitten. Das Europa, wie es in unserer Gegenwart existiert, wird nicht funktionieren, gerade weil ordoliberale Prinzipien vernachlässigt oder sogar vollständig ignoriert werden.

So kann es nicht verwundern, dass die EU sich derzeit in einer Zerreißprobe befindet. Jedoch sind Krisen auch nützlich, um sich auf Wesentliches zu konzentrieren, um zu lernen und sich zu verbessern – auch wenn dies heißt, alte Prinzipien entstauben und neu hochhalten zu müssen. Die Entscheidungsträgern der EU stehen daher nun vor der Aufgabe, sich dort zurückzunehmen, wo ihr Handeln eher schadet als nutzt und demokratisch nicht legitimiert ist, und dort gegen Marktmacht und Marktversagen vorzugehen sowie die Einheit und Haftung und Kontrolle abzusichern, wo es für eine stärkere wirtschaftliche Dynamik und einen größeren Wohlstand nötig ist.

Der Ordoliberalismus und die soziale Marktwirtschaft haben in Deutschland zu großem Wohlstand geführt. Orientiert sich Europa an den Grundsätzen des Ordoliberalismus, ohne dabei „wie Deutschland“ werden zu müssen, dann ist der Ordoliberalismus nicht als Fluch, sondern als Chance oder Segen für Europa zu bewerten.

 


 

Beitragsbild: Schmuttel  / pixelio.de

 

Kommentare

0 Antworten zu „Der Ordoliberalismus: Fluch oder Segen für Europa?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert