Die Illusion vom inklusiven Wachstum: Wer profitiert von Ludwig Erhards Sozialer Marktwirtschaft?

Die Bundestagswahl 2021 hat wieder einmal gezeigt, dass die Soziale Marktwirtschaft als Schlagwort in den Parteiprogrammen nicht wegzudenken ist. Wir identifizieren uns immer noch stolz mit ihr. Wirtschaftlich steht Deutschland im globalen Vergleich stabil da, aber haben wirklich alle Einkommensklassen Anteil am Wohlstandszuwachs? Von der Illusion eines inklusiven Wachstums und der Notwendigkeit, über ein Update der Sozialen Marktwirtschaft nachzudenken.

Einst nutzte Ludwig Erhard die Analogie eines Fußballspiels, um das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft zu erklären. „Wohlstand für alle“ (wie der Titel seines Buches verspricht) solle erreicht werden, in dem der Staat für einen fairen Interessensausgleich sorgt. Wie bei jedem Bundesligaspiel an einem Samstagabend müsse das Regelwerk präzise definiert sein und ein Schiedsrichter bei Verstößen jedweder Art pfeifen. Genau so stellte sich Erhard den Staat in seiner Wirtschaftsordnung vor: in der neutralen Rolle des Schiedsrichters.

Soziale Zwecke würden dabei primär aus dem System heraus ermöglicht. Ein fairer Wettbewerb unter staatlichen Rahmenbedingungen kombiniert mit Freiheit und Verantwortung sollte dazu führen, dass es allen besser geht. Doch ziehen wir Bilanz: Wohin hat uns das Vertrauen in den wettbewerbsfähigen Markt gebracht, der nach Erhard den sozialen Fortschritt fast schon von allein mit sich bringen sollte?

Seitdem Erhards CDU die Worte „Sozial“ und „Marktwirtschaft“ miteinander verknüpfte, haben die regierungsbildenden Parteien das politische Schlagwort in ihren Programmen fest verankert. Aber wo kommen die Erträge des Wirtschaftswachstums an? Spätestens seit dem letzten Wahlkampf sollte klar sein, dass die Soziale Marktwirtschaft um das Wort Ökologisch erweitert werden muss. Obwohl der materielle Wohlstand seit der Wiedervereinigung in Deutschland zugenommen hat, bleibt das Wachstum der unteren Einkommen seit Ende der 1990er Jahre hinter dem des Durchschnittseinkommens zurück. Menschen, die von Armut betroffen sind, laufen im Vergleich zu früher sogar Gefahr, länger in Armut zu verweilen. In Punkto Chancengerechtigkeit bei jungen Menschen wirken sich die sozioökonomischen Verhältnisse des Elternhauses entscheidend auf das spätere Einkommen aus.

Am stärksten zeigt sich die Ungleichheit in Deutschland beim Vermögen. Das  Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung findet in einer Studie von 2019, dass die Schere hier vor allem bei den unter 30-Jährigen weit auseinandergeht. Gleichzeitig stellt sie fest, dass Immobilienbesitz in Deutschland die quantitativ wichtigste Vermögenskomponente ausmacht. Wer also nicht das Privileg hat zu erben, hat es erheblich schwerer, sich später etwas aufzubauen. Ungleiche Startvorraussetzungen dieser Art lassen sich nicht mal eben durch Bildung und Eigenleistung ausgleichen.

Wenn eine Volkswirtschaft konstantes Wirtschaftswachstum verzeichnet und die Teilhabe an diesem Wohlstand nur wenigen zugutekommen lässt, wofür steht dann das „Soziale“ in der Sozialen Marktwirtschaft? „Wohlstand für alle“ muss gleichzeitig auch inklusives Wachstum bedeuten. Ludwig Erhard verkannte, dass es sich beim Thema Ungleichheit mitunter um ein strukturelles Problem handelt. Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Wohnort – all diese Faktoren dürfen wir nicht isoliert voneinander betrachten. Zusammenwirkend können sie Systeme von Diskriminierung und Benachteiligung schaffen, aber auch Privilegien erklären. Eine florierende Wirtschaft ist wichtig, sie allein beseitigt die Ungleichheit aber nicht. Kalt ökonomisch argumentiert ist sie schlicht ineffizient, wenn vorhandenes Potential nicht ausgeschöpft wird.

Große Konzentrationen von Vermögen verändern die Machtverhältnisse und schlussendlich, wessen Belange gehört werden. Es wird nicht ausreichen, sich auf Erhards Ideen zurückzubesinnen. Was wir brauchen, ist eine fundamentale und strukturelle Neuausrichtung auf diversen Gesellschaftsebenen und einen Umbau der Vermögenspolitik. Es ist daher fraglich, ob die Soziale Marktwirtschaft heute noch wettbewerbsfähig ist und aus sich heraus die faire Ordnung schaffen kann, in der wir leben wollen. Kräfteverhältnisse müssen neu austariert und Prozesse demokratisiert werden. Eine transparente und vollumfängliche Erfassung der Vermögen (die bis dato nicht existiert) wäre ein erster Schritt dahingehend, ein „Spielfeld“ zu schaffen, auf dem man sich auf Augenhöhe begegnet.


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