Flüchtlingskatastrophen vor den Toren der EU – Hat die „Festung Europa“ Bestand?

Im vergangenen Herbst erschütterte die Flüchtlingskatastrophe vor den Küsten Lampedusas die Welt. Die gefährlichen Fluchtversuche vieler junger Afrikaner über das Mittelmeer nach Europa haben laut eines Berichts der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in den letzten 25 Jahren mehr als 20.000 Menschen das Leben gekostet. Die Medien überschlugen sich mit Meldungen und die Europäische Union (EU) wurde dabei aufs Schärfste kritisiert. Nun steht die Frage im Raum, ob diese Unglücke das Ergebnis einer verfehlten Flüchtlingspolitik der EU sind. Denn obwohl sich die prekäre Lage an Europas Grenzen – mit Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer und katastrophalen Zuständen in den Auffanglagern – weiter zuspitzt, bleibt die „Festung Europa“ geschlossen. Sie ist zum Sinnbild der europäischen Flüchtlingspolitik geworden. Die Frage, wie die EU zukünftig mit dieser Thematik verfahren will, bleibt jedoch aktuell. Im Fokus der Flüchtlingsdebatten werden die Öffnung der europäischen Grenzen und die gänzliche Abschottung Europas vor den illegalen Zuwanderungsströmen gleichermaßen kontrovers diskutiert.

Was ist ein Flüchtling?

Ein Flüchtling wird gemäß Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskommission als eine Person definiert, „..die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.“

Während das Flüchtlingskonzept einen politischen, ethnischen oder religiösen Ausgangspunkt hat, muss bei illegalen Zuwanderungen in die EU zumeist von einem ökonomischen Hintergrund ausgegangen werden, da die Menschen nicht aus einer unmittelbaren Notlage heraus, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen aufbrechen. Im Zielland angekommen erlangen die betroffenen Menschen (z.B. in Asylverfahren oder anhand bestimmter Kriterien) einen Aufenthaltsstatus, welcher ihre Rechtsstellung und weitere Verfahrensweisen regelt. Die Bezeichnung der „illegalen Einwanderung“ unterstellt Asylsuchenden jedoch von vornherein einen Rechtsbruch, welcher ihr Aufenthaltsrecht in Zweifel zieht, ohne überhaupt die Frage zu stellen, inwieweit es illegal sein könnte, wenn Menschen verzweifelt versuchen, ihr Leben zu retten. Sollten sie sich lieber mit ihrem Schicksal abfinden und der Hoffnungslosigkeit hingeben? Es ist schwer, eine Differenzierung zwischen Flüchtlingen zu treffen, die aus der Not heraus fliehen, und anderen, die aus weniger dringlichen Gründen in die EU möchten. 

Illegale Zuwanderungsströme nach Europa

Migrationsströme sind kein neuzeitliches Phänomen. Auslöser waren und sind seit jeher einschneidende Ereignisse wie Kriege, Verfolgung oder Wirtschaftskrisen. Es handelt sich um einen andauernden dynamischen Prozess, der schon immer existierte und auch in Zukunft Bestand haben wird. Laut dem UNHCR gibt es derzeit weltweit ca. 45 Millionen Flüchtlinge, wobei sich rund 80% aller Flüchtlinge in Ländern wie Pakistan, Iran oder Kenia aufhalten. Der „arabischen Frühling“ und der anhaltende Konflikt in Syrien forderten bereits mehr als 100.000 Menschenleben und sind für die zunehmenden Flüchtlingsströme verantwortlich. Auch in anderen Teilen Afrikas herrschen katastrophale Zustände, welche die Menschen zur Flucht zwingen. Ein Großteil der Kriegsflüchtlinge findet Schutz in den umliegenden Nachbarländern, doch einige von ihnen treibt es bis nach Europa.

Die Hauptströme illegaler Zuwanderung nach Europa verlaufen meist über zwei Wege. Zum einen über den Landweg der griechisch-türkischen Grenze und zum anderen mittels Überfahrten über das Mittelmeer. Die Beweggründe für eine Flucht nach Europa sind unterschiedlich, jedoch werden die Entscheidungen oftmals gemeinsam und bewusst innerhalb der Familien getroffen. Die Aussicht auf ein gesichertes Leben und Arbeit, welche die Versorgung der Familie in den Heimatländern sicherstellt, ist verlockend. Die Menschen sind, wie sie selbst berichten, durchaus über mögliche Probleme und Herausforderungen einer Flucht nach Europa informiert. Die Realität zeigt aber auch, dass ihre Flucht sie meist in Obdach-, Erwerbs- und Einkommenslosigkeit sowie soziales Elend führt.

Die sich in Europa befindlichen Flüchtlinge werden laut des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) auf derzeit ca. 1,8 Millionen geschätzt. Ein geringer Bruchteil der weltweiten Flüchtlingszahlen, welcher verdeutlicht, dass nicht die Masse, sondern vielmehr eine gerechte Verteilung der Menschen auf die Mitgliedsländer, das eigentliche Problem darstellt. Um die erstaufnehmenden Länder zu entlasten, ist ein Lastenausgleich nötig, da die ankommenden Flüchtlingswellen oftmals die Aufnahmekapazitäten dieser Länder übersteigen. Die ungleiche Verteilung der Zuströme führt zu Überlastungen und in Folge dessen zu oberflächlichen und langsamen Fallentscheidungen in den Antragsverfahren für eine legale Einreise. Eine optimale Flüchtlingspolitik muss eine Reihe wichtiger Faktoren berücksichtigen. Jeder Asylantrag bedarf einer einzelnen Prüfung, was sich jedoch in der Praxis als sehr schwierig darstellt. Der Bürokratieaufwand ist enorm und stellt eine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte dar.

Vor diesem Hintergrund ist auch zu klären, inwieweit eine angemessene Behandlung der Flüchtlinge sichergestellt werden kann, ohne in der eigenen Bevölkerung Ressentiments zu erzeugen. Unorganisierte und vorschnelle Aufnahmen von Flüchtlingen können zu Unstimmigkeiten und Missständen innerhalb der Aufnahmeländer, aber auch innerhalb der EU führen. Um dies zu vermeiden, muss anhand eines geeigneten Verteilungsschlüssels festgelegt werden, wie die Flüchtlinge auf die einzelnen Mitgliedsländer der EU verteilt werden können. Ehe jedoch eine detaillierte Aufteilung der Länder vorgenommen werden kann, muss der optimale Gesamtumfang der Zuwanderung in die EU ermittelt werden. Hierbei bedürfen die Bezeichnungen „optimal“ und „geeignet“ einer Präzisierung bzw. einer möglichst allgemein gültigen Definition, damit überhaupt Einigkeit zwischen den EU-Mitgliedern, die ja unterschiedlich stark von Zuwanderung betroffen sind, erreicht werden kann.

Ein damit zusammenhängendes zentrales Problem, das sich für eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik ergibt, ist, dass es bislang nicht zu einer vollständigen Realisierung der vorgesehenen Vergemeinschaftung gekommen ist. Dieser Umstand gestaltet Übereinkünfte umso schwieriger. Um Ungleichbehandlungen zu vermeiden und das Ziel einer gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik zu verwirklichen, sind klare Regelungen, einheitliche Standards, sowie die Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in den einzelnen Ländern unabdingbar.

De facto herrscht große Unstimmigkeit in Sachen Flüchtlingspolitik und die Reserviertheit der Politiker verdeutlicht deren Hilflosigkeit im Angesicht der Flüchtlingsströme. Die EU definiert sich als „Raum des Rechts, der Sicherheit und Freiheit“ und wurde 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Dennoch ist das politische Stimmungsbild im Hinblick auf eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik innerhalb der EU gespalten. Der europäische Rat hielt bei seinem Gipfel 2013 eine Änderung in der Flüchtlingspolitikpolitik weder für notwendig noch für implementierbar. Dies bedeutet eine Fortsetzung der seit Jahren bestehenden Abwehrhaltung gegenüber einer Öffnung der europäischen Außengrenzen und einer Lockerung des Asylrechts. Jedoch sind Wegschauen und ein bisschen Symbolpolitik vor dem Hintergrund der Situation auf Lampedusa fehl am Platze. Die Lage macht deutlich, dass die aktuelle EU-Flüchtlingspolitik weitestgehend versagt hat.

Die bei den Debatten im Fokus stehende Frage, ob die EU ihre Grenzen öffnen oder durch nochmals verschärfte Maßnahmen gänzlich schließen soll, knüpft am falschen Punkt an. Ersteres würde gegen den Willen breiter Bevölkerungsschichten gehen, letzteres die prekäre Lage zuspitzen. Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprach sich dafür aus, die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern, so dass  “die Menschen schon keinen Grund haben, ihre Heimat zu verlassen.“ Der Gedanke mag vernünftig klingen, jedoch lassen sich die oftmals sehr komplexen Missstände schwerlich durch eine Einflussnahme der EU beseitigen. Entwicklungspolitische Ansätze und versöhnliche Gespräche werden kaum helfen, die Rechtslage der Menschen zu verbessern. Dennoch sollte die Frage der Ursachenbehebung stärker in den Vordergrund rücken, um nachhaltig vernünftige Lösungen zu finden. Bislang übt sich die EU zu sehr in Zurückhaltung, wenn es um die Bekämpfung der Fluchtursachen geht.

Auch wenn die EU schärfere Kontrollen einführt und schwerere Sanktionen verhängt, werden sich die illegalen Zuwanderungen nicht stoppen lassen. Diese Maßnahmen werden viel mehr dazu führen, dass die Menschen noch riskantere Wege auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, und die Schlepper höhere Preise für die gefährlichen Überfahrten verlangen können. Aufgrund des bereits erwähnten Selbstverständnisses der EU als Raum des Rechts, der Sicherheit und Freiheit sollte dies nicht das Ziel der europäischen Flüchtlingspolitik sein.

Neben der Suche nach mittel- bis langfristigen Lösungen, müssen alternative Lösungsansätze entwickelt werden, die auch in der kurzen Frist ihre Wirkung zeigen. Dies schließt ein, dass mögliche Bedenken seitens der Bevölkerung bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderern, seien diese illegal oder nicht, thematisiert werden. Ungewissheit über die Aufenthaltsdauer und Beherbergung bergen die Gefahr einer zunehmend ablehnenden Haltung gegenüber den Betroffenen. Transparenz und Aufklärung in der europäischen Flüchtlingspolitik können dabei helfen, bei denjenigen, die durch die Flüchtlinge ihren Wohlstand gefährdet sehen, Bedenken und die Angst vor „Überfremdung“ und Armutszuwanderung zu nehmen. Die Gesellschaft und die Politik müssen weiterhin für die Flüchtlingsthematik sensibilisiert werden. Eine Erhöhung der Aufnahmekapazitäten innerhalb der EU sollte unter anderem auch an der Aufnahmeakzeptanz der lokalen Bevölkerung gemessen werden, um potentiellen Konflikten vorzubeugen. Eine finanzielle Aufstockung der Unterstützung des UN-Flüchtlingshilfswerks sowie der Ausbau lebensrettender Maßnahmen, wie der Seenotrettung, können dazu beitragen, die Lage der Flüchtlinge zu verbessern.

Fazit

Die EU kann die Augen nicht länger vor der Realität verschließen. Ihre Abschottungsstrategie gegenüber Flüchtlingen kann dem hohen Migrationsdruck auf Dauer nicht standhalten, da diese den Menschenhandel und die Rechtlosigkeit der Flüchtlinge befeuert. Flüchtlingspolitik ist mittlerweile kein Randthema mehr und die Politik befindet sich auf einem schmalen Grad. Einerseits gilt es, den in der EU ankommenden Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren, andererseits ist ihre Beherbergung auf lange Sicht gesetzlich nicht vorgesehen. Mit dem Wegfall des Fluchtgrundes müssen die Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren. Die EU-Kommission sollte die Bedürfnisse und Erfahrungen der Mitgliedsländer mit in ihr Entscheidungskalkül einbeziehen und sich verstärkt auf die Ursachenerkundung konzentrieren. Es bleibt also die Frage, wie viele Menschen vor den Küsten Europas noch sterben müssen, bis die Länder handeln. Eine Abschottung Europas und die Schließung der Grenzen stellen keine Lösung bei der Bekämpfung von Flüchtlingskatastrophen dar. Solidarität und der Schutz der Menschen sollten bei der Suche nach dauerhaften Lösungen in den Vordergrund rücken und grundlegend für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik sein.


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