Die Qual der Wahl: Wahlrecht und Generationengerechtigkeit in einem alternden Deutschland

Deutschland hat die zweitälteste Bevölkerung der Welt und den geringsten Anteil an unter 15-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in ganz Europa. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt immer weiter an, während die Geburtenziffer bei gerade einmal 1,4 Kindern je Frau auf sehr niedrigem Niveau stagniert. Diese Entwicklung lässt nicht nur verheerende Auswirkungen in der Zukunft für die sozialen Sicherungssysteme erwarten, sondern ist bereits jetzt im täglichen politischen Entscheidungsprozess immer deutlicher erkennbar. Deutschland droht der Weg von der Demokratie in die Gerontokratie, also in einen Staat unter der „Herrschaft der Alten“ mit all seinen problematischen Folgen. Um dies zu verhindern, müssen Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Grundgesetz verankert werden!

Im Kreise der Greise

Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist durch ihre zunehmend größere Rentnergeneration vor allem für diejenigen sozialen Sicherungssysteme, die auf einen Generationenvertrag basieren, eine Herausforderung. Da Menschen dazu neigen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und die Zukunft systematisch zu vernachlässigen, wird die Politik zu leichtfertiger Staatsverschuldung verführt, die junge Menschen und zukünftige Generationen belastet. Der politische Wettbewerb um die Wählergunst führt zu Wahlversprechen, die angesichts des in Legislaturperioden zu messenden Zeithorizonts von Politikern immer in der kurzen Frist zu erfüllen sind. Dabei konzentriert sich die Politik darauf, die politische Mitte zu gewinnen, die in den Mehrheitswahlsystemen für das Gewinnen oder Verlieren einer Wahl von entscheidender Bedeutung ist. Etwas stilisiert lässt sich dieses Phänomen mit dem Medianwählermodell erklären. Der Median befindet sich politisch – oder altersmäßig – genau in der Mitte des Wählerspektrums: die eine Hälfte der Wähler ist weiter links orientiert (oder jünger oder ärmer) und die andere Hälfte ist weiter rechts positioniert (oder älter oder reicher). Um eine Mehrheit für eine Politik zu gewinnen, die zum Beispiel den jungen Wählern gefällt, reicht es nicht, nur die jungen Wähler zu begeistern, sondern man muss auch den Medianwähler überzeugen, denn ohne ihn kommt die notwendige Mehrheit von 50 Prozent plus einer Stimme nicht zustande. Umgekehrt müssen aber auch die älteren Wähler, denen ebenfalls eine Stimme zur Mehrheit fehlt, den Medianwähler umwerben. Der Medianwähler ist somit in einer überaus günstigen Position, in der er die tatsächlich umgesetzte Politik in entscheidender Weise beeinflusst und mitbestimmt.

Nimmt man nun den Fall des Wählers im Medianalter, der von 50 Prozent jüngeren und 50 Prozent älteren Wählern umgeben ist, dann muss auch dieser umworben werden, sobald es um politische Maßnahmen geht, die eine Altersdimension haben, wie es etwa bei Fragen der Ausgestaltung des Rentensystems der Fall ist. Das Alter des Medianwählers liegt in Deutschland bei etwa 50 Jahren, was zunächst nicht dramatisch klingt. Rechnet man jedoch die Abstände zum Eintritt in das Arbeitsleben (mit 20 bis 25 Jahren) und zum Renteneintritt (mit 65 Jahren oder früher), dann ist der Medianwähler bereits sehr viel dichter am Renteneintritt. Er hat den Großteil seiner Beitragsleistungen bereits erbracht und beginnt langsam, sich auf die Rente zu freuen. Da seine Lebenserwartung bei etwa 85 Jahren liegt, wird er diese Rente im Durchschnitt 20 Jahre lang genießen können, während ihm nur noch 15 Beitragsjahre bevorstehen. Ein steigender Beitragssatz wird ihn daher nicht allzu sehr stören, wenn er dafür eine entsprechende höhere Rente bezieht. Mit anderen Worten: Der Wähler im Medianalter ist gegenüber einer Ausdehnung des Rentensystems nicht abgeneigt und die Politik wird versuchen, seinen Wunsch zu erfüllen, um ihre Chancen bei kommenden Wahlen zu verbessern. Aktuell nutzt die große Koalition wahltaktische Rentenerhöhungen, um die Stimmen von interessanten Wählergruppen im mittleren Altersspektrum (z.B. ältere Facharbeiter und Mütter zwischen 50 und 60 Jahren) zu gewinnen. Diese Gruppen, die man getrost als Medianwähler bezeichnen darf, sind an der Höhe des Rentenbezugs unmittelbar interessiert, und lassen sich so bis zu einem gewissen Grad zu einer erwünschten Stimmabgabe bewegen.

In einem umlagefinanzierten Rentensystem führt dieser Wirkungsmechanismus zu großen Problemen, denn zusammen mit der ungünstigen Bevölkerungsentwicklung sorgt er für eine Nachhaltigkeitslücke in der Generationenbilanz. Je mehr die Politik die Rentensysteme zugunsten der älteren Generation verändert, desto höhere Lasten werden der jungen Generation aufgebürdet. Diese Belastung betrifft auch – und sogar in noch größerem Umfang – die noch gar nicht geborenen Generationen, die für die Renten künftiger Rentnergenerationen um ein Vielfaches belastet werden, ohne dass sie ihre Stimme politisch erheben könnten.

Wer wählt, der zählt

Das Medianalter der Wähler hängt jedoch nicht nur von der Altersstruktur der Bevölkerung ab, sondern auch vom Wahlverhalten der einzelnen Altersgruppen. Bei entscheidenden Wahlen wie der Bundestagswahl zeigt sich eine altersabhängige Verzerrung der Wahlbeteiligung, die das Medianwähleralter deutlich über das Medianalter der Gesamtbevölkerung hebt, so dass der politische Einfluss der Älteren noch verstärkt wird, denn es gilt der Grundsatz, dass nur wer wählt auch mit seiner Stimme für die Wahl zählt. Die Wahlbeteiligung nimmt kontinuierlich mit dem Alter der Wähler zu. Bei der Bundestagswahl 2013 waren die 60-bis-69-Jährigen mit 79,8 Prozent die aktivste an der Wahl beteiligte Altersgruppe. Die über 69-Jährigen stellten mit 21,3 Millionen mehr als doppelt so viele Wähler wie die unter 30-Jährigen, die mit 9,8 Millionen nur knapp ein Sechstel aller Wahlberechtigten ausmachten. Dies erklärt das relativ hohe Medianwähleralter von etwa 50 Jahren.

Andererseits darf die Problematik des so genannten Wahlparadoxons nicht vernachlässigt werden. Dieses besagt, dass eine einzelne Stimme für das Wahlergebnis nicht entscheidend ist. Ein rationaler Wähler wird daher den Zeitaufwand für die Informationsbeschaffung und für den Wahlakt mit seinem Nutzen aus dem Wahlergebnis vergleichen. Zwar fühlen sich viele Menschen demokratisch verpflichtet zu wählen, aber einen Nichtwähler bringt nur derjenige zur Wahl, der dessen Eigeninteresse zu wählen, weckt. Dies kann über konkrete Sachfragen und vor allem die Erwartung von finanziellen Vorteilen durch die Wahl einer bestimmten Partei gelingen. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD spiegeln sich diese finanziell attraktiven Sachfragen in Form der Programmpunkte Mütterrente, der Rente mit 63 Jahren für langjährige Versicherte oder der solidarischen Lebensleistungsrente wider. Diese Wahlversprechen sind für die genannten Medianwähler-Gruppen überaus interessant, da sie in unmittelbarer Zeit davon betroffen sein werden, und regen damit zur Wahlbeteiligung an.

So beeinflusst das strukturelle (Über-)Gewicht der älteren Wählerschaft die große Koalition und verleitet sie zu Wahlversprechen zulasten der jungen und nicht geborenen Generationen. Die Finanzierung der Wahlgeschenke erfolgt aber nicht über Steuermittel, sondern über die umlagefinanzierte Rentenversicherung, deren Beitragseinnahmen derzeit dank brummender Konjunktur ungewöhnlich hoch sind. Doch anstatt die Spielräume zu nutzen, heute noch einmal die Arbeitnehmer von Sozialbeiträgen zu entlasten, ehe sie der unweigerlichen Steigerung künftiger Rentenbeiträge im immer schneller und stärker alternden Deutschland ausgesetzt werden, plant die Bundesregierung die kurzfristig verfügbaren Gelder in langfristig wirkenden Rentenerhöhungspaketen zu versenken, die nach dem Ende der aktuellen Beitragsexplosion durch Staatsverschuldung oder zusätzlich steigende Beitragssätze der jungen Generation eine weitere Last aufbürden.

Stoppt die Gerontokratie jetzt!

„Generationengerechtigkeit ist,“ laut dem Generationengerechtigkeitsaktivisten Jörg Tremmel, „eine Form der Verteilungsgerechtigkeit, nämlich der Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen zwischen den Generationen. Und angesichts der Stimmlosigkeit künftiger Generationen ist es nicht verwunderlich, dass bei den harten Verteilungskonflikten zwischen den die Gegenwart bestimmenden Interessengruppen häufig nicht mehr genug übrig bleibt für künftige Generationen.“ Um die Chancengleichheit für künftige Generationen mit den heute lebenden – arbeitenden und nicht-arbeitenden – Generationen zu gewährleisten, muss die derzeitige Tendenz zu gerontokratischen Verhältnissen eingedämmt werden. Hierbei sind vor allem zwei Aspekte bedrohlich. Zum einen verschiebt sich nicht nur das Medianwähleralter gen Renteneintrittsalter, sondern auch – in einem Parteien- und Verbändestaat, wie Deutschland einer ist, viel problematischer – das Durchschnittsalter der Schlüsselfiguren, die in politischen Parteien und Interessengruppen aktiv sind. Das durchschnittliche Alter der Mitglieder von CDU/CSU und SPD lag zu Beginn des Jahres 2013 bei 59 Jahren. Da Parteien und Interessengruppen zum Zwecke der bestmöglichen Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder gegründet werden, ist an dieser Stelle das Schlimmste zu befürchten. Zum anderen führt die zunehmend größere Anzahl von kinderlosen Menschen zu dem Problem, dass der für ältere Menschen durchaus typische Altruismus gegenüber den eigenen Kindern kein Ziel mehr findet. Der Altruismus gegenüber einer abstrakten „jüngeren Generation“ ist dagegen sehr viel geringer ausgeprägt und damit auch die Bereitschaft, auf eigenen Wohlstand (und Renten) zu verzichten.

Im schlimmsten Falle kann unter den genannten Bedingungen sogar die Bereitschaft wachsen, die Staatsverschuldung über Gebühr auszudehnen, um den durch eine immer kleiner werdende Arbeitsbevölkerung gefährdeten Wohlstand zu sichern. Dabei warnt der Bundesrechnungshof schon jetzt, dass die „geltende verfassungsrechtliche Kreditobergrenze in Artikel 115 Absatz 1 Grundgesetz (…) sich als unzureichend erwiesen [hat], den Schuldenaufwuchs im Bundeshaushalt zu bremsen.“  Hieraus folgt unmittelbar die Notwendigkeit, die Staatsverschuldung so zu kanalisieren, dass sie intergenerational (einigermaßen) fair stattfindet. Hierzu wäre das Grundgesetz entsprechend zu ändern. Zu dieser Änderung bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, die jedoch angesichts der genannten Überalterung der deutschen Politik solange nur schwer zu erreichen ist, wie der nachrückenden Generation in dem derzeitigen Wahlsystem kein Einfluss gewährt wird. Obwohl zukünftigen riesigen Schuldenbergen ausgesetzt, dürfen junge und noch nicht geborene Generationen nicht abstimmen, solange sie das 18. Lebensjahr nicht erreicht haben. Entsprechend haben diese jungen Menschen keinen politischen Einfluss durch ihre Stimmabgabe.

Das Zeitfenster, um der Wahl die Qual abzunehmen, ist kurz

Politische Teilhabe ist der demokratische Bestandteil in einer Gesellschaft wie der deutschen. Laut Artikel 20 des Grundgesetzes geht „alle Staatsgewalt [über Wahlen] vom Volke aus“. Der Ausschluss junger Bürger, derzeit gibt es etwa 14 Millionen Unterachtzehnjährige, von politischen Wahlen erlaubt in Fragen von übergenerationaler Bedeutung dagegen keine Teilhabe und führt damit unmittelbar zu einer Verstärkung gerontokratischer Tendenzen. Ein Mindestwahlalter von 18 Jahren hat in einer alternden Demokratie keine Berechtigung mehr.

Eine Senkung oder Abschaffung des Wahlalters ist dabei keine Spinnerei. Es gibt zahlreiche Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren, die ihren Wahlwillen lautstark bekunden. Sie bekommen wie jeder andere Mensch politische Entscheidungen über die Umwelt-, Bildungs- oder Kulturpolitik deutlich zu spüren und entwickeln hierzu eine Meinung. Zurzeit können sie diese jedoch allenfalls durch ihr Demonstrationsrecht äußern, denn dieses ist interessanterweise von Geburt an gültig. Die Stiftung für Rechte zukünftiger Generationen (SRzG) fordert daher nicht weniger als ein Wahlrecht ohne Altersgrenze, um den Stellenwert der Jungwähler im Kalkül der Politik zu stärken. Jeder Mensch erhielte nach diesem Konzept ein Wahlrecht. Im ersten Schritt würde das bestehende Mindestalter auf 16 Jahre und danach sukzessive weiter nach unten abgesenkt.

Weitergehend gäbe es ein „Wahlrecht durch Eintragung“, welches jedem Interessierten unter dem gerade gültigen Mindestwahlalter jederzeit eine Stimme gewährt, sobald er oder sie sich selbständig in das Wahlregister einträgt. Die Möglichkeit einer Briefwahl würde ausgeschlossen, um die persönliche Wahlausübung zu garantieren. Die Gefahr der Beeinflussung durch Eltern oder nahe Verwandten sei ab 12 Jahren wegen des Ablösungsprozess weniger gegeben. Bei den unter 12-Jährigen wäre ein Stellvertreterwahlrecht für die Eltern denkbar. Die Gefahr des Stimmenmissbrauchs für Randparteien aufgrund von fehlender Reife oder Wissensstandes sollte realistisch betrachtet werden, da rund eine Millionen Wahlberechtigte in Deutschland dement sind und ihre Stimme trotzdem abgeben dürfen. Geschadet hat dies der Demokratie bisher nicht. Die Abschaffung des Mindestwahlalters ist zweifellos die beste Antwort auf die grundsätzliche Frage, ob und wie junge Menschen an politischen Entscheidungen beteiligt sein sollen.

Fazit

Der demographische Wandel in Deutschland führt zu einer unausgewogenen Politik zugunsten der stetig größer werdenden Gruppe der Rentner und rentennahen Jahrgänge. Vor allem zwei Maßnahmen sind hiergegen zeitnah anzuwenden. Das Wahlrecht ohne Altersgrenze muss dringend als Korrektiv gegen den „Kreis der Greise“ eingeführt werden. Zugleich muss eine Verfassungsnorm geschaffen werden, die die Schuldenverschiebung auf zukünftige Generationen beendet. Nur so kann eine Politik, welche sich nachhaltig für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen einsetzt, forciert werden.


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