I want my money back! – Eine ordnungspolitische Analyse der neuen Empfehlungen für Sammelklagen in der EU

Die Europäische Kommission hat im Sommer den Weg für eine erhebliche Erleichterung kollektiver Rechtsschutzverfahren frei gemacht. Diese zivilrechtlichen Sammelklagen, die bei einem Erfolg allen Betroffenen und nicht nur den Klägern Ansprüche verschaffen, sind in den USA schon seit Jahrzenten gang und gäbe. Künftig sollen sich europäische Verbraucher, die durch Wettbewerbsverletzungen – wie zum Beispiel Kartellabsprachen – benachteiligt worden sind, leichter zusammenschließen können, um ihre Ansprüche vor Gericht geltend zu machen. Aus ordnungspolitischer Sicht hat dies, wie im Folgenden ausgeführt wird, zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen dürfte der marktliche Wettbewerb in Europa gestärkt werden und zum anderen können die Verbraucher die ihnen ursprünglich zustehenden Konsumentenrenten zurückerhalten. Mit anderen Worten: sowohl aus allokativer wie auch aus distributiver Sicht hat die Einführung der Sammelklagen vorteilhafte Folgen für die Gesamtwohlfahrt.

Betrachtet man die neuen Empfehlungen der Europäische Kommission an die Mitgliedsstaaten, die später in verbindliches EU-Recht umgesetzt werden sollen, dann zeigt sich, dass die Empfehlungen bei Massenklagen zwar keine amerikanischen Verhältnisse zulassen, dass die Kommission sich aber dennoch eine dicke Scheibe von den so genannten „class actions“, wie sie im amerikanischen Rechtssystem üblich sind, abgeschnitten hat. Zu den neu eingeführten Maßnahmen soll u.a. die Möglichkeit gehören, dass Organisationen und Privatpersonen Unterlassungs- und Schadenersatzklagen einreichen können, falls eine Schädigung einer Vielzahl von Personen durch ein und dieselbe rechtswidrige Verhaltensweise vorliegt, z.B. wenn konkret gegen europäisches Kartellrecht verstoßen wird. Weiterhin müssen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass die Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer sind. Dies ist insofern wichtig, da es bislang erhebliche nationale Unterschiede bei den Kosten und der Verfahrenslänge gibt, so dass Ansprüche vor Gericht nicht in gleicher Weise geltend gemacht werden konnten. Das Ziel dieser Maßnahmen ist es, dass Verbraucher und hintergangene Unternehmen einen verstärkten Anreiz erhalten, ihr Recht einzuklagen.

Andererseits scheint die EU aus den Fehlern des US-Systems, das starke Anreize zu einer suboptimalen Nutzung des kollektiven Rechtsschutzes setzt, gelernt zu haben. So fordern die Empfehlungen von den jeweiligen Nationalstaaten gewisse Verfahrensgarantien. Zum Beispiel müssen die Mitgliedsstaaten erfolgsabhängige Honorare für Anwaltskanzleien bzw. Verbraucherverbände verbieten, sodass „Klageindustrien“, die sich seit der Liberalisierung des US-Rechtssystems in den 1980er und 1990er entwickelt haben, in Europa gar nicht erst entstehen. Angesichts von 30- bis 40-prozentigen Beteiligungen an den erstrittenen Schadenersatzzahlungen ist es der größte Antrieb für amerikanische Anwälte, die Schadensersatzforderungen in die Höhe zu treiben. Diese liegen oftmals weit über mehreren zehn Millionen Dollar. Die EU-Kommission strebt dagegen an, dass die Kompensation des Schadens möglichst vollständig bei den Einzelnen ankommt. Darüber hinaus besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem amerikanischen und europäischen System der Sammelklagen in ihrer inhaltlichen Zielsetzung. Zwar soll in beiden Fällen das Verhalten der Anbieter beeinflusst werden, jedoch zielt man in den USA eher auf die Beseitigung von problematischen Produkteigenschaften (wie gefährlichen Inhaltsstoffen oder mangelnden Sicherheitsstandards), während die EU Sammelklagen vor allem aus einer Wettbewerbsperspektive heraus zulassen will, d.h., es geht darum, die erwarteten Kosten für Unternehmen, die den Wettbewerb verletzten und dabei entdeckt werden, deutlich zu erhöhen. Dabei fallen nicht nur Verfahrenskosten an, sondern weitere hohe Kosten in Form von Bußgeldern, Schadensersatzzahlungen und einem Imageverlust. Dies sollte nach der ökonomischen Theorie der Kriminalität das Kostenkalkül der Unternehmen so verändern, dass sich die Zahl der Rechtsverletzungen durch Kartellbildung und andere Wettbewerbsbeeinträchtigungen reduziert.

Eine sehr wichtige und typisch europäische Komponente der neuen Empfehlungen ist die Regelung, dass die Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten  vor den Gerichten aller Mitgliedsstaaten als Beweis für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zugelassen werden. Dies senkt die (nationalen) Prozesskosten erheblich, ebenso wie die Möglichkeit, sich bereits laufenden Klagen anzuschließen, wodurch die Prozesskosten pro Person sinken. Personen, die sich nicht am Prozess beteiligen, aber dennoch geschädigt wurden, sollen nach Abschluss des Verfahrens den erlittenen Schaden nachweisen können, um ebenfalls kompensiert zu werden. Die erleichterten Klagemöglichkeiten würden die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung erhöhen, was wiederum die abschreckende Wirkung auf potenzielle Brecher des Wettbewerbsrechts erhöht.

Erfüllen die neuen Empfehlungen (oder eine spätere Richtlinie oder Verordnung) die zuvor beschriebenen Ziele erfolgreich, dann ist dies eine positive allokative Wirkung ganz im Sinne der Ordnungspolitik, auch wenn das Ziel eines funktionierenden Wettbewerbs durch Regelsetzung hierbei nur auf dem Umweg über das Instrument der Sammelklage erreicht wird. Der für Wettbewerb zuständige Vizepräsident der Kommission Joaquín Almunia erwartet, dass die „erheblichen Schäden“, die durch „Zuwiderhandlungen gegen die Kartellvorschriften (…) den europäischen Verbrauchern und Unternehmen [verursacht werden]“, erheblich reduziert werden, wenn kartellbedingte Preisaufschläge so abgebaut werden, so dass die Marktpreise wieder in Richtung der Grenzkosten sinken. Die umgesetzte Menge würde bei sinkenden Preisen steigen, so dass Konsumenten- und Produzentenrenten steigen können, was die Gesamtwohlfahrt erhöht. Neben der allokativen Wirkung können die Empfehlungen aber auch distributive Wirkungen zugunsten der Verbraucher entfalten. Wettbewerbsverzerrungen, die durch Marktmacht auf der Anbieterseite entstehen, führen zu einer Umlenkung der Konsumentenrente zu den Anbietern. Mit der Möglichkeit, Sammelklagen anzustrengen, würde es in Europa einen Mechanismus geben, der diesen Transfer rückgängig macht. Idealerweise sollten die von den Gerichten verhängten Schadensersatzzahlungen also genau der entgangenen Konsumentenrente entsprechen, womit auch gleich das größte Manko der Empfehlungen sichtbar wird, die Quantifizierung der Schäden.

Entsprechend der Konzeption der Empfehlungen würde in einer idealen Welt jeder Verbraucher mit einem Betrag entschädigt werden, der genau dem Verlust an Konsumentenrente durch die Wettbewerbsverzerrung durch ein Kartell o.ä. entspricht. In der Realität werden jedoch nicht alle Geschädigten den Klageweg gehen, so dass weiterhin Wohlfahrtsverluste und geminderte Konsumentenrenten existieren werden. Darüber hinaus werden Kläger, Kartellbehörden und Gerichte kaum in der Lage sein, präzise und realitätsnahe Schadensersatzhöhen zu beziffern. Dies ist zum einen auf mangelnde Informationen in Bezug auf die tatsächlichen Grenzkosten der Unternehmen zurückzuführen. Zum anderen gibt die Literatur kein einheitliches Bild darüber ab, wie solche Schäden gemessen werden können. Da geschädigte Unternehmen ihre Kosten überwälzen, ist es schwierig, Elastizitäten zu berechnen, die den Absatzrückgang und den damit verbundenen Verlust aufzeigen. Hinzu kommt, dass der Schadensersatz idealerweise denjenigen zugesprochen werden sollte, die den Schaden in letzter Konsequenz getragen haben. Ist jedoch ein Unternehmen geschädigt worden und hat dieses den Schaden zumindest teilweise auf seine Kunden überwälzt, dann müssten die seinerzeitigen Kunden (nicht aber neue Kunden) den Schadensersatz zugesprochen bekommen. In dieser Hinsicht kann das (indirekte) Instrument der Sammelklage nur ein „zweitbester“ Weg sein, um das ordnungspolitische Ziel eines funktionierenden Wettbewerbs zu erreichen.

Unterzieht man das neue Instrument der europäischen Sammelklage einer ordnungspolitischen Bewertung, dann sind die beschriebenen Überlegungen gegeneinander abzuwägen. Ein deutlicher Vorteil der neuen Empfehlungen ist es, dass sie die wettbewerbspolitischen Rahmenbedingungen in Europa stärken, indem der Anreiz der Unternehmen, gegen das Kartellrecht zu verstoßen, angesichts der drohenden Kosten verringert wird. Andererseits wird es aufgrund von Informations- und Messproblemen nicht gelingen, die Verteilung von Konsumenten- und Produzentenrenten so zu korrigieren, dass es im Nachhinein zu einer perfekten Wiederherstellung des verzerrungsfreien Verteilungsergebnisses der Märkte kommt. Der letzte Effekt darf in der Abwägung jedoch nicht überbewertet werden. Zwar ist das Ergebnis der neuen Empfehlungen nur zweitbester Natur, jedoch führt der Abbau von Wettbewerbsverzerrungen insgesamt zu einem Anstieg der Wohlfahrt für beide Marktseiten. Selbst wenn es ex post also nicht gelingt, die Verbraucherseite vollständig zu kompensieren, so werden sich die Verbraucher durch sinkende Preise, bessere Produktqualitäten und eine größere Auswahl doch besser stellen und in Zukunft in einer stärkeren Marktposition verbleiben.

Ob die neuen Empfehlungen tatsächlich eine positive Wettbewerbswirkung entfalten werden und damit die Gesamtwohlfahrt Europas erhöhen werden, lässt sich angesichts einiger Widerstände auf nationaler Ebene und von Seiten der Unternehmen noch nicht endgültig abschätzen. Klar ist jedoch, dass die Empfehlungen wichtige Anreize und die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen haben, damit man dem theoretisch erzielbaren und von Ökonomen gewünschten Marktergebnis, das sich im vollkommenem Wettbewerb ergeben würde, zumindest eine großen Schritt näher kommt.


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