Wohlstand für Alle? – von Wundern und Märchen

Ludwig Erhard ließ Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg wie „Phönix aus der Asche“ wiederauferstehen – soweit die Erzählung. Doch die deutsche Nachkriegsentwicklung ist weder einzigartig, noch auf Deutschlands besondere Wirtschaftspolitik zurückzuführen. Besonders aus sozialpolitischer Sicht kann Erhard sein Versprechen „Wohlstand für Alle“ nicht halten.

Dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard werden einige große Errungenschaften nachgesagt. Unter anderem habe er mit seiner „sozialen Marktwirtschaft“ dem deutschen Volk das „Wirtschaftswunder“ gebracht. Doch weder ist West-Deutschland vollkommen aus „der Asche“ wiederauferstanden (die Industriekapazitäten waren durch die Kriegswirtschaft nach dem Krieg sogar größer als davor), noch kann es im europäischen Vergleich eine einzigartige Entwicklung vorweisen: In Italien und Frankreich verlief die Entwicklung ähnlich gut, von Japan ganz zu schweigen. Dennoch wird Erhards Hauptwerk „Wohlstand für Alle“ bis heute beinahe ehrfürchtig zitiert. Selbst die ehemalige Vorsitzende der Linksfraktion Sahra Wagenknecht will Ludwig Erhard „zu Ende denken“ und schwärmt in Anlehnung an ihn von „Freiheit, Eigeninitiative, Wettbewerb (und) leistungsgerechte(r) Bezahlung.“

Erhards Konzept war denkbar einfach: Bereits der Wettbewerb auf herrschaftsfreien Märkten führe zu Wohlstand und einer gerechten Verteilung. Dem Staat fiele dabei einzig die Aufgabe zu, das reibungslose Funktionieren des Wettbewerbs sicherzustellen und Marktmacht jeglicher Form zu verhindern. Schon hier müsste differenziert werden: Was eine Volkswirtschaft braucht, ist die Form des Wettbewerbs, die zur Zunahme von Produktivität und Innovation führt. Sicher ging es Erhard um diesen sinnvollen, schumpeterianischen Wettbewerb der „ständig fortschreitende(n) Produktivitätssteigerungen“, welcher zu Preissenkungen und damit zu Reallohnsteigerungen führen sollte. Demgegenüber steht jedoch die heute viel praktizierte Form desjenigen Wettbewerbs, welcher durch Lohndumping (verstärkt durch Globalisierung und internationalen Standortwettbewerb) oder verminderte Arbeits- und Qualitätsstandards Wettbewerbsvorteile zu Lasten der Arbeitnehmer und Konsumenten generiert.

Um letzteren Fall nicht nur in der Theorie ausschließen zu können, bedarf es allerdings entweder funktionsfähiger Institutionen, wie Gewerkschaften und Tarifverträge, oder eines starken Staates, der gegebenenfalls auch über Erhards Rahmen hinaus interveniert und Lohnsteigerungen sowie Arbeits- und Qualitätsstandards durchsetzt. Erhard lehnte jedoch beides entschieden ab. Die Verhandlungsmacht der Arbeitgeber allerdings einzig über den Wettbewerb und ein (bei Erhard lückenhaftes) Kartellrecht begrenzen zu wollen, stellt sich spätestens bei einer nicht mehr zu vernachlässigenden Arbeitslosenrate und der entsprechend hohen Marktmacht der Arbeitgeber als naiv heraus.

Wie aber will man mit Erhards Hilfe dann verhindern, dass Arbeitnehmer und Menschen, die sich nicht „aus eigener Kraft bewähren“ und das „Risiko des Lebens selbst tragen“ können, am Markt abgehängt werden? Schwierig, denn nach Erhards Verständnis der sozialen Marktwirtschaft ohne Arbeitslosigkeit, Krisen und Konjunkturzyklen wurde ökonomisches Scheitern zum individuellen Problem fehlender Anreize und Motivation erklärt. Wer es demzufolge zu „nichts“ brachte, galt als faul und zu Recht arm – Spaltung der Gesellschaft inklusive.

Ein umfassendes Sozialsystem? Fehlanzeige, denn für Erhard war der Wettbewerb an sich schon „sozial“ und Umverteilung sowie ein auf mehr als das Minimum beschränkter Sozialstaat stark anreizverzerrend: Die „Sozialisierung der Einkommensverwendung […] und die zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat“ führten gar zum „sozialen Untertan“. Soziale Sicherheit müsse demnach aus „eigener Leistung“ und „eigenem Streben erwachsen“ und nur im Notfall dürfe die Gemeinschaft einspringen.

Doch welcher Progressive könnte sich dieser radikalen Reduktion sozialer Verantwortung heute noch anschließen und den Wettbewerb derart normativ überhöhen? Aufgabe der Sozialpolitik sollte es doch sein, Menschen von existentiellen Sorgen zu befreien, sie ausreichend abzusichern und gemeinsam mit der Bildungspolitik die eindeutig belegbare Chancenungleichheit in Deutschland zu bekämpfen. „Sozial ist, was Arbeit schafft“ reicht eben schon lange nicht mehr aus. Mittlerweile sollte auch fernab der Linken angekommen sein, wie erbarmungslos der globale Wettbewerb ausgestaltet ist und wie schutzlos Arbeitnehmer ohne Gewerkschaften sind; ebenso, wie wichtig ein zuverlässiges Sozialsystem für eine funktionierende Gesellschaft ist, welches nicht lediglich für das blanke Existenzminimum aufkommt, sondern ein sozial inklusives Leben ermöglicht. Gleichermaßen sollte bekannt sein, dass nur die wenigsten, die „abgehängt“ werden, faul und selbst schuld sind. Und auch das Problem der Chancenungleichheit ist kein Geheimnis mehr. Ob es sich vor diesem Hintergrund lohnt, Ludwig Erhard „zu Ende denken“ zu wollen, bleibt daher zu bezweifeln.

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